Was ist ein gutes Lernmaterial? Was ist ein gutes Schulbuch? Eine gute Lernsoftware? Ein gutes Arbeitsblatt? Und wer hat das Recht und die Qualifikation über die Qualität eines Lehr- oder Lernmaterials zu entscheiden?
Nie wurden diese Fragen häufiger aufgeworfen und nie weniger beantwortet als in der Diskussion um offene Bildungsressourcen (OER) in der Schule. Früher war die Welt in Ordnung. Da haben Verlage Bücher gemacht, Bundesländer haben sie geprüft und zugelassen und damit war für alle klar: Das ist Qualität. Selten wurde gefragt: Was wird denn da überhaupt geprüft? Von wem? Nach welchen Kriterien? Und noch weniger hat man sicher gewundert, warum die Verfahren zur Zulassung in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich sind. Auch dass einzelne Länder mittlerweile auf Schulbuchzulassungen gänzlich verzichten, hat niemanden aus der Bahn geworfen; ebenso wenig wie die Tatsache, dass der überwiegende Teil der von Verlagen hergestellten Lehr- und Lernmaterialien noch nie einer staatlichen Zulassung bedurfte – diese bezog sich (fast) immer nur auf Schulbücher, die den Stoff ganzer Schuljahre abdeckten und nie auf Zusatzmaterialien, Übungshefte oder digitale Begleitmedien. Und bei den „Freien“ war es ähnlich, damals als es noch kein OER gab. Da haben Stiftungen, Initiativen oder einfach Zusammenschlüsse von engagierten Lehrkräften Material erstellt, im Netz veröffentlicht und wer wollte, hat es genutzt. Das ist bis heute so.
Qualitätssicherung? Wenn es passt, ist es gut! Doch wer sichert die Qualität bei OER?
Und vor dem „Wer?“, steht die Frage nach dem „Was?“. Wir müssen verschiedene Bereiche unterscheiden, in denen ein Material Qualität haben kann:
- Zunächst die Besonderheit für OER: Die korrekte Verwendung von Lizenzen. Die Offenheit der Formate.
- Die inhaltliche Korrektheit. Die fachliche Richtigkeit.
- Die Passung eines Materials zu den Lehr- und Bildungsplänen eines Bundeslandes. Die Zuordnung zu Schulformen und Jahrgangsstufen.
- Die Eignung für eine bestimmte Lerngruppe oder – in Zeiten der individuellen Förderung – für einzelne Lernende. Zunächst die Besonderheit für OER: Die korrekte Verwendung von Lizenzen. Die Offenheit der Formate.
Nun das „Wer“ in den vier Bereichen:
1. Lizenzen
Für ersteres sind die Herausgebenden verantwortlich. Doch wenn man sich viele Diskussionen anschaut, dann scheint es nicht immer ganz einfach zu sein, die verschiedenen Lizenzen beim Erstellen eines Materials und noch weniger beim Remixen verschiedener Materialien korrekt anzugeben – und dabei eine lerngerechte Gestaltung zu erzielen. Gehen wir hier einfach einmal davon aus: Der gute Wille zählt. OER hat das Ziel, Bildungsmaterialien frei zugänglich zu machen und eine weitgehende Nachnutzung und Veränderung zu ermöglichen. Die CC-Lizenzen, die sich zu einem Quasi-Standard für OER entwickeln sind hier eine gute Grundlage. Ein Urheberrecht, das Bildung aber eine besondere Rolle einräumt, könnte die Sachlage hier noch vereinfachen und Produzenten und Lehrkräften mehr Rechtssicherheit geben, als komplexe CC-Lizenzen dies können.
2. Inhaltliche Korrektheit, fachliche Richtigkeit
Inhaltliche Fehler passieren immer wieder. Überall im Netz finden sich Sammlungen von fachlichen Fehlern in gedruckten und zugelassenen Schulbüchern. Anders als bei Druckwerken, kann die Aufmerksamkeit der Nutzenden bei OER direkt wirken. Ein Hinweis an die Autorin oder den Autor und ein Fehler in einem digitalen Werk lässt sich schnell beheben. Oder die Finderin und Finder besseren den Fehler selbst aus und stellen das korrigierte Werk wieder zur Verfügung. Wenn das auf der gleichen Plattform und zum Beispiel mit Hilfe einer Versionierung geschieht, kann ein Werk so schrittweise verbessert werden. Eine Versionierung von Derivaten bringt einen zusätzlichen Gewinn. Für Nutzende wird erkennbar, dass ein Werk nicht mehr ausschließlich von (bekannten) Herausgebenden stammt, sondern von anderen (unbekannten) Autorinnen und Autoren verändert wurde. Ob dies zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Qualität beiträgt, kann aber pauschal nicht beantwortet werden.
3. Lehrplananbindung
Für viele Lehrkräfte bildet das linear aufgebaute, gedruckte Schulbuch heute eine wichtige Hilfestellung bei der Planung von Unterricht. Es gibt den roten Faden vor, an dem sich der Unterricht aufbaut; es stellt die handhabbare Übersetzung des Lehrplans für die Lehrkraft dar. Dabei weichen Lehrkräfte schon heute oft vom Buch ab und wählen anderes Material – aus dem Internet oder selbst erstellt – um die Inhalte zu vermitteln. Die Funktion des roten Fadens könnten in Zukunft Einrichtungen der Bundesländer wahrnehmen, die jetzt für die Schulbuchzulassung verantwortlich sind. Sie könnten Material sichten und Themen, Kompetenzen, Schulformen und Jahrgängen anhand der Lehr- und Bildungspläne zuordnen. Diese Informationen mit Verweisen auf die jeweiligen Materialien können zum Beispiel über die Landesbildungsserver bereitgestellt werden. Aber auch andere Einrichtungen, die sich besonderen Aspekten des Unterrichtens widmen, könnten solche Zuordnungen vornehmen. Wenn es dabei etwa um die Förderung von besonders naturwissenschaftlich interessierten Lernenden geht oder um die Umsetzung von Inklusion, können diese Zuordnungen dann durchaus unterschiedlich ausfallen. Unabhängig davon, wo solche Sammlungen zusammengetragen werden: Sie können die Funktion des roten Fadens ersetzen.
4. Passung für den Unterricht
Bei aller Qualitätssicherung im Produktionsprozess und der Zuordnung zu Bildungsplänen: Am Ende entscheidet sich die Qualität eines Materials erst in der Verwendung in einer Lehr- und Lernsituation. Nur die Lehrkraft und die Lernenden können entscheiden, ob das Material hilfreich war und ob es zur gewählten Methodik passt.
Und so sind wir wieder bei der Erkenntnis vom Anfang: Wenn es passt, ist es gut!
Allerdings: Das wertvolle Wissen vieler Lehrkräfte und Lernenden über die Erfahrungen, die sie mit einzelnen Materialien gemacht haben, werden bisher kaum für andere nutzbar gemacht. Dieses Wissen sollte besonders mit Blick auf OER, aber auch für andere Materialien systematisch zugänglich gemacht werden. Dazu braucht es zweierlei:
- Plattformen, die dieses Erfahrungswissen sammeln und zugänglich machen und die dabei unabhängig von den Produzenten sind, müssen geschaffen und bekannt gemacht werden. Bei der Reiseplanung und der Auswahl von Restaurants kennen und nutzen wir solche Angebote bereits. Für den Bildungssektor müssten sie ausgebaut und bekannt gemacht werden. Verknüpfungen zu den Plattformen der Materialanbieter schaffen zusätzlich Übersicht.
- Lehrkräfte müssten animiert und motiviert werden, ihr Erfahrungswissen bereitzustellen – und auch ihre Lernenden dabei einzubeziehen. Zu überlegen wäre hier, welche Anreizsysteme dabei hilfreich sein könnten. Noch wichtiger aber wäre es, bereits in der Ausbildung zu üben, eine Lerneinheit damit abzuschließen, die persönliche Meinung über die verwendeten Materialien öffentlich zu machen.
Fazit: Bisher wurde bei der Qualität von Materialien vor allem auf die Erstellung geschaut. Es ist auch wichtig, dass hier Material erprobt wird und dass für Korrektheit gesorgt wird. Aber die tatsächliche Nutzung und Eignung im Lernprozess selbst, entscheidet letztlich über Brauchbarkeit und Qualität. Diese Informationen gilt es zu sammeln und nutzbar zu machen.
Richard Heinen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Duisburg Essen und Geschäftsführer von LearningLab GmbH. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Schulentwicklung, Lerninfrastruktur und Medienintegration, BYOD – Bring your own device und Freien Bildungsmedien (OER) in informationell offenen Ökosystemen.