In unserem vorangegangen Blogpost fragten wir, inwiefern die traditionelle Qualitätsbewertung von Schulbüchern noch zeitgemäß ist. In unserem heutigen Beitrag erläutert Prof. Dr. Ulf-Daniel Ehlers, warum ein simples Anpassen bestehender Qualitätssicherungsverfahren einer zunehmend digitalen und heterogenen Lernumgebung nicht gerecht werden können.
Qualität, so Ehlers, ist ein partizipativer Aushandlungsprozess. Damit erweitert sich die Perspektive im Qualitätskontext dahingehend, dass nicht ausschließlich die Ressource betrachtet wird, sondern beispielsweise auch Lernumgebungen sowie Lernniveaus und -erfahrungen Lernender Berücksichtigung finden müssen.
In einem Kurzinterview mit Mapping OER zeigt Prof. Dr. Ehlers auf, warum Qualitätssicherung mit einem ganzheitlichen Blick auf die Bildungspraxis gedacht werden muss. Reicht es aus, allein die Ressource zu betrachten? Resultiert daraus ein Paradigmenwechsel in der Qualitätssicherung? Und inwiefern sind OER dabei wirksam oder fehlbar? Wie schätzen Sie die Relevanz und das Potential von OER ein? Wir freuen uns über Ihren Diskussionsbeitrag!
Ihrer Meinung nach bedarf es eines “Paradigmenwechsels in der Qualitätssicherung” – woran machen Sie das fest? Und inwiefern greifen traditionelle Qualitätssicherungsinstrumente in einer zunehmend digitalen und heterogenen Lernumgebung?
Heterogenität ist der digitale Normalfall. Und Heterogenität stellt sich zunehmend stärker als ein zentraler Einflussfaktor für Bildungserfolg heraus. Lang bekannte und bewährte Konzepte der Binnendifferenzierung im Schulalltag legen dies nahe und unterstreichen seine Bedeutung. Modularisierung und individuelle Lernpfade im E-Learning sind ebenfalls Konzepte, die versuchen, eine möglichst genaue Passung von Präferenzen und Bedürfnissen auf Seite der Lernenden einerseits mit dem Bildungsarrangement andererseits herzustellen. Wir können sogar so weit gehen, zu behaupten, Heterogenität sei eines der wesentlichen Konstrukte pädagogischer Praxis und stellt seit jeher ein dialektisches Moment in der pädagogischen Diskussion dar. Bereits bei Comenius oder Humboldt und in vielen Reformpädagogiken finden sich Vorschläge zum Umgang mit Heterogenität in Lerngruppen, bspw. durch Konzepte der Binnendifferenzierung. Als anstrebenswert wird dabei zunächst jedoch immer eine möglichst homogene Lerngruppe angesehen. Im Bereich der beruflichen Fort- und Weiterbildung und im Zuge lebenslangen Lernens verstärkt sich die Heterogenität von Lerngruppen zunehmend. Beim E-Learning und in digitalen Lernumgebungen wird Heterogenität oft auch durch die Lernorganisation bzw. Lernform begünstigt, etwa hinsichtlich demographischer Komponenten (berufliche Stellung, Bildungsstand etc.), inhaltlicher Komponenten (Vorwissen, Kenntnisse etc.) und der Lernerfahrungen, die Lernende haben. Auf einheitliche Voraussetzung für eine Lerngruppe kann nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden – das gilt in besonderem Maße übrigens für OER, die ja gewissermaßen „immanent kontextunscharf“ sind. Während der traditionelle Gruppenunterricht auf relativ homogene Voraussetzungen angewiesen ist, begünstigt E-Learning das selbstgesteuerte Lernen.
Dabei gilt: Was wann, wie lange, wie oft gelernt wird, liegt in der Kontrolle des Lernenden. Potenziell ist medial gestütztes Lernen auch in den Zielvorstellungen und den damit zusammenhängenden Motivationsstrukturen völlig offen. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse beeinflussen aber nicht nur den Lernerfolg, sondern sind auch für seine Definition entscheidend.
Digitalisierung setzt die Grundgesetze der Qualitätssicherung nicht grundsätzlich außer Kraft, sie bedarf aber einer neuen Betrachtung. Qualität ist zunächst einmal ein relationaler Begriff, der im Spannungsfeld unterschiedlicher Dimensionen steht. Es gilt also, dieses mehrdimensionale Konstrukt zu erschließen. Da gibt es unterschiedliche Qualitätsverständnisse, unterschiedliche Akteure, aus deren jeweils anderer Perspektive Qualität je anders definiert wird und schließlich kann sich Qualität auch noch auf unterschiedliche Bereiche eines Qualifikationsprozesses beziehen. Bei dem, was als Qualität letztlich definiert wird, handelt es sich um ein Ko-Produzenten-Verhältnis. D.h. Qualität entsteht in Interaktion von Lernendem und Lernarrangement und ist ein partizipativer Aushandlungsprozess. Einer Qualitätsentwicklung für pädagogische Handlungszusammenhänge liegt damit ein prinzipiell partizipatives Verständnis zugrunde, dass wir in der pädagogischen Qualitätsentwicklung als „Erbringungsverhältnis“ bezeichnen. Die Adressaten von Bildung sind dabei ausdrücklich nicht passive Empfänger, sondern aktive “Ko-Produzenten”. Wir haben dazu bereits vor 15 Jahren begonnen, die Präferenzen von Lernenden in digitalen Lernarrangements zu untersuchen und gewissermaßen zu kartografieren, um für eine so verstandene Qualitätsentwicklung überhaupt erst einmal eine Grundlage zu gewinnen.
Und damit ja: Die in der Frage angelegte Vermutung kann ich im Fazit also nur teilen: Eine Adaption von bekannten Qualitäts(management)verfahren ist hierfür oft unzureichend, wie die Praxis zeigt. Sicherung von Qualität anhand von strukturellen oder formalen Mindeststandards — wie bspw. die gesamte Metadatendiskussion in der OER-Debatte zeigt — erscheint aus dieser Perspektive zwar als notwendiger Schritt, ist aber im Hinblick auf eine Optimierung von Lern-, Bildungs- und Aneignungsprozessen auf Seiten der Lernenden nicht hinreichend.
Freie Bildungsmaterialien (OER) haben Qualitätssicherung als zentrales Thema. Inwiefern passen traditionelle Qualitätssicherungsinstrumente mit OER zusammen?
Kurz gesagt: Eine (bildungsbezogene) Qualitätssicherung im Bildungsbereich ohne den Einsatzkontext, die Zielgruppe usw. zu kennen, ist nicht möglich. Qualität kann sich dann nur auf anderen, nicht unmittelbar bildungsbezogene Aspekte beziehen, wie bspw. eine richtige Metadatenverschlagwortung oder mediale Funktionalität. Da es bei offenen Bildungsressourcen eben so schwer ist, einen Einsatzkontext vorweg zu nehmen, ist eine Qualitätssicherung, die den oben formulierten Anspruch hat (Relation zwischen den Anforderungen) durchzuführen. Daher ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich die Debatte um die Qualität vielfach tatsächlich auf das „R“ – also die Ressourcen bezieht, nicht etwa auf die Bildung oder das Lernen – also auch den „open education“ Anteil des Begriffes.
Von diesem Ausgangspunkt her kommend, habe ich immer stark kritisiert, dass die Diskussion über Open Educational Resources, im Bereich der Qualität stark anhand der Ressourcen definiert wurde. So gibt es bspw. Qualitätszyklen, die sehr stark darauf abheben, wer der Autor ist, wer ein Review macht, wie die mediale und Metadatenverschlagwortung ist etc., aber eben keine bildungsbezogenen Parameter, wie Niveau, Schwierigkeitsgrad oder didaktisches Design oder Zielgruppeneigenschaften in den Mittelpunkt stellt. Und hier gilt wieder die alte Erkenntnis: Man kann mit einer (OER)-Ressource bei der richtigen Zielgruppe ganz wunderbar wirksam sein, schöne Lernergebnisse bewirken, Aha-Effekte und Lernprozesse. Bei einer anderen Zielgruppe, die möglicherweise gar nicht darauf anspricht, deren Präferenzen es gar nicht trifft, mit genau derselben (OER) Ressource aber gar keinen Effekt haben. Das heißt, die Qualität liegt nicht in der Ressource, sie liegt eben in dem aktiv-produktiven Aushandlungsprozess, in der Relation zwischen dem Anspruch und dem Kontext des Bildungsprozesses auf der einen Seite und dem Ziel, was in dieser Ressource möglicherweise verkörpert ist. Daher vertreten wir in Bezug auf die „OER Qualitätsdebatte“ in unseren Arbeiten auch die Überzeugung, dass wir nicht nur die Resourcen in den Blick nehmen müssen, sondern vor allem das Thema „Open Education“ diskutieren müssen. Es geht darum, die derzeitigen Bildungspraxen in offene Bildungspraxen zu transformieren. Es geht also nicht mehr um „Open Educational Resources“ sondern um „Open Educational Practices“ – um die Bildungspraxis, in der offene Ressourcen eine Rolle spielen, in der sie genutzt, geteilt, geshared, remixt werden.
Das Konzept der Open Educational Practices – so wie wir es seit 2011 in der deutschen und europäischen Debatte eingeführt haben – enthält alle Anhaltspunkte, die wir für die Qualitätsentwicklung von OER-orientierter Lehre benötigen. Dabei geht es insgesamt um den Lernkontext, das Bildungsszenario.
Welche Auswirkungen hat dies auf die Erstellung und Verwendung von Bildungsmaterialien?
Um es kurz zu machen: Wenn wir einen Paradigmenwechsel vollziehen und zukünftig nicht mehr „nur“ noch Open Educational Resources bei der Qualitätssicherung in den Blick nehmen, sondern das gesamte Bildungsgeschehen, sind die Auswirkungen bei der Verwendung von offenen Bildungsmaterialien natürlich enorm. Dann geht es darum, die Frage zu stellen, wie offen sind eigentlich unsere Lernumgebungen – im pädagogischem Sinne. In dem Konzept der „Open Educational Practices“ kombinieren wir nämlich die Nutzungsintensität von OER – also den Ressourcen – mit der Frage, wie offen das pädagogische Szenario ist. Und Offenheit wird hierbei vor allem durch zwei Determinanten bestimmt: Können Lernende ihre eigenen Lernziele bestimmen oder einbringen oder werden die Lernziele fest vorgegeben? Und können Lernende den eigenen Lernweg bestimmen oder ist dieser fest vorgegeben. In offenen Lernarchitekturen würden wir eher eigenbestimmte Lernziele und -wege vorfinden und in geschlossenen eher vorgegebene Lernziele und -wege. Um diese Bildungspraxis geht es eigentlich, es ist eine besondere Bildungspraxis und die Frage der Qualität muss darauf ausgerichtet sein: Wie können wir diese Bildungspraxis, die offene Ressourcen nutzt, qualitativ hochwertig gestalten.
Die Frage der Qualität kann man anhand dieses Modells gut stellen, weil es nicht mehr ressourcenbasiert ist, sondern weil es bildungsprozessbezogen ist. Und da kann man schon viel besser sagen: „Wie fit, liebe Studierende, seid ihr eigentlich, so eine Herausforderung anzunehmen?“ Das ist ganz schön schwierig, bspw. ein Bachelor-Studium so offen zu organisieren. Digitalisierung in dieser (offenen) Weise verstanden stellt die Frage danach, wie Studium organisiert werden kann, um Studierende in passender Weise bei ihrer Lernautonomie zu unterstützen, und nicht danach, möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit zu memorisieren. Dieses ‚Passen‘, diese Relation, ist immer ein guter Punkt, bei dem man dann anfängt über die Qualität zu reden.
Wie können “neue” Qualitätssicherungsinstrumente bei freien Bildungsmaterialien aussehen und Anwendung in der Bildungspraxis finden?
Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an ausgearbeiteten Ansätzen, um Qualität in offenen Bildungsszenarien zu entwickeln. Es sind dies Ansätze, die sehr stark auf Selbstevaluation oder Peer-Review, Peer-Learning, Peer-Assist durch andere Lernende abheben. Wir haben in einer gerade erschienenen Publikation einmal alle derzeit existierenden Ansätze und Instrumente zusammengestellt: Open Learning Cultures. A Guide to Quality, Evaluation and Assessment for Future Learning. (Springer 2013)
Ehrlicherweise muss man zugestehen, dass wir in den meisten Bildungsinstitutionen weltweit und vor allem auch in Schulen und Hochschulen noch weit von offenen Bildungspraxen entfernt sind und auch peer-orientierten Qualitätssicherungsverfahren nicht viel Glauben schenken. Aber die Natur der neuen Lernszenarien lässt uns keine Wahl – digitale Medien erlauben viel individuellere Lernmöglichkeiten, und Qualität kann dafür nur als interaktiver Prozess gestaltet werden, in dem Lernende selber reflektieren, andere Lernende zur Validierung heranziehen und Lehrende diesen Prozess begleiten, aber nicht als bewertende am Ende, sondern eher wie „Stewards“ eine Reise.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Ulf-Daniel Ehlers ist im Vorstand der DHBW für die Bereiche Qualität und Lehre sowie Forschung verantwortlich. Der studierte Anglist, Sozialwissenschaftler und Pädagoge promovierte im Bereich Qualitätsentwicklung für E-Learning und habilitierte in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung mit Schwerpunkt Neue Medien. Nach Stationen als Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen, Professor an der Universität Augsburg und der University of Maryland ist er jetzt Professor für Bildungsmanagement und lebenslanges Lernen an der DHBW. Zudem war er Präsident der European Foundation for Quality in E-Learning sowie stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft e.V..